Historische Wahl in Brasilien
Interview mit Leonardo Boff
Von Sergio Ferrari
Bei der Präsidentenwahl in Brasilien am 27. Oktober wurde
erstmals ein Kandidat der Linken zum Präsidenten des größten
lateinamerikanischen Landes gewählt. Der überlegene Sieg
von Ignacio Luis da Silva, genannt „Lula“, kann bedeutende
Auswirkungen auf Brasilien und darüber hinaus den gesamten
Kontinent haben. Das ist ein entscheidender politischer Moment.
Im folgenden Dialog mit Leonardo Boff wird die aktuelle Situation
in Brasilien analysiert. Boff gilt als einer der Gründerväter
der Befreiungstheologie, als Unterstützer und Förderer
von Volksbewegungen, er ist Universitätsprofessor, Schriftsteller
und Analyst der brasilianischen Realität von hohen nationalen
und internationalem Prestige. Das Interview hat Veronika Mandorfer-Reisenberger
übersetzt.
Frage: Was bedeutet der Sieg Lulas über seinen sozialdemokratischen
Gegenkandidaten Jose Serra?
Boff: Lula ist ein Hoffnungsträger. Serra ist die Resignation.
Lula ist neu, Serra steht für die Vergangenheit. Lula hat Charisma,
Serra die Macht ... und Macht ohne Charisma geht unter und führt
zur offensichtlichen Ablehnung durch das Volk. Im Gegensatz dazu
gewinnt Charisma verbunden mit Macht die Herzen der Menschen. Das
macht den Lula-Effekt aus. Ähnlich wie Nelson Mandela ist auch
Lula für viele zu einem Symbol geworden und das weit über
die Grenzen Brasiliens hinaus. Lula macht heute keine inhaltsleeren
Worte. Er vermittelt Glaubwürdigkeit, weil er das Leiden des
Volkes aus eigener Erfahrung kennt. Heute überragt Lula seine
eigene Partei, die PT (Arbeiterpartei): er verkörpert ein Brasilien,
das sich getragen von einer neuen Hoffnung von einer neuen Machtbasis
aus neu konstituieren soll.
Wie ist es Lula und der PT nach drei gescheiterten Anläufen
schließlich gelungen, genau im Wahlkampf diese breite Unterstützung
zu gewinnen? Was genau ist eigentlich die PT?
Um das Mobilisierungspotential von Lula zu verstehen, muss man
das Wesen der PT analysieren. Vier wichtige Kräfte begründeten
gemeinsam die PT als Verkörperung des Traumas von einem „möglichen
anderen Brasilien“. Das sind eine neue Gewerkschaftsbewegung,
die befreiende Linke, die Volksbewegung, die Hunderte von Organisationen
umfasst, darunter die Bewegung der Landlosen (MST) und viertens
– von nicht geringer Wichtigkeit – die ökumenische
Kirche der Befreiung.
Machen wir es der Reihe nach. Die beiden ersten Komponenten, von
denen sie sprachen ...
Das ist die neue Gewerkschaftsbewegung, aus der Lula und viele
seiner MitstreiterInnen hervorgingen. Sie gab der PT ein Klassenbewusstsein
gegenüber dem kapitalistischen System, das heute globalisiert
und ständig im Kampf gegen Arbeiterschaft auftritt. Die zweite
Kraft konstituiert sich aus der befreienden (traditionellen/politischen)
Linken der verschiedenen Parteien, der Universitäten und den
aus dem Exil Zurückgekehrten. Diese Komponente gab der PT eine
universalistische Ausrichtung auf eine zu schaffende Demokratie.
Und die beiden anderen Komponenten?
Die dritte Kraft ist die Sozial- und Volksbewegung. Sie besteht
aus zahlreichen Organisationen, darunter eben auch die Bewegung
der Landlosen. Sie verkörpern heute eine gesellschaftliche
Kraft basierend auf einem neuen Bewusstsein, auf einer starken Organisation
und dem Kampf für ein anderes Projekt. Sie wirkten an der Gründung
der PT als politische Kraft mit, um eine Alternative zu ermöglichen,
die in der Lage ist, die zentrale Macht im Staat zu erobern. Die
Sozialbewegung sieht die Partei als ein Instrument zur Verwirklichung
eines wirklich demokratischen Staates und einer sozial gerechten
Politik für alle. Diese Bewegungen brachten den Geist des Widerstands
und der Freiheit in die PT ein. Die befreiende Kirche oder eigentlich
Kirchen (katholisch und evangelisch) gaben der PT ihr Verständnis
von einer engen Verbindung zwischen Evangelium und sozialer Gerechtigkeit.
Das hat die PT eindeutig auf eine Option für die Armen, für
ihre Rechte und Freiheiten und gegen die Armut festgelegt.
Trifft das insbesondere für die kirchlichen Basisgemeinden
zu?
Zehntausend kirchliche Basisgemeinden, hunderttausende Bibelrunden,
hunderte Zentren zur Verteidigung der Menschenrechte und die Sozialpastoral
(auf dem Land, mit den Indigenen, den Schwarzen, den Kindern usw.)
sind Teil der Sozialbewegung, mit der sie sich ständig gemeinsam
artikulieren. Sie übernehmen das Projekt der Sozialbewegung,
geben aber nicht vor, ein eigenes Projekt zu haben. Klarerweise
geht das Projekt des Glaubens sehr viel weiter als das eines neuen
Brasiliens und einer neuen Menschlichkeit, aber es identifiziert
sich mit der Sozialbewegung und der PT. In anderen Worten, das Evangelium
verspricht nicht nur ewiges Leben, sondern auch die Schaffung eines
diesseitigen Lebens, das gerechter und spiritueller ist. Nicht dass
diese engagierten christlichen Sektoren der PT beigetreten wären,
aber sie haben ihre Gründung unterstützt mit dem Ziel,
ein Projekt des Volkes zu verwirklichen, um so dem Paradigma des
christlichen Traums einer gerechten Gesellschaft näherzukommen.
Schon 1989 hat sich die Bewegung Glaube und Politik (Movimiento
Fe y Politica) organisiert, die Politik als ein Instrument zur Verwirklichung
der Ziele des Gottesreiches verstand, nämlich Gerechtigkeit,
Brüderlichkeit und Glaube als utopischen Horizont von Politik.
Diese gesamte Kraft verleiht der PT eine Mystik des Kampfes und
eine besondere Großzügigkeit. ...
Zeigt sich die Komplexität einer Partei mit so vielen verschiedenen
Akteuren auch in deren innerer Struktur?
Die Herausforderung der PT besteht darin, genau diese Komplexität
jener Kräfte, die sie begründeten, beizubehalten und abzusichern,
um so jene besondere Vitalität zu bewahren, welche die politische
Kultur Brasiliens auf ein neues Niveau gebracht hat. Diese Partei
verdient es, an die Macht zu kommen und dieser einen wirklich sozialen
und befreienden Sinn zu geben.
Trotz Ihrer Euphorie über den Wahlsieg von Lula, glauben Sie
nicht, dass die PT, wenn sie erst einmal an der Macht ist, aufgrund
der bestehenden Verpflichtungen von den internationalen Finanzinstitutionen
bestimmt werden wird und daher eine Politik gegen die Ideale und
Interessen ihrer Wählerbasis wird machen müssen?
Die Auslandsschuld Brasiliens ist praktisch nicht bezahlbar ...
sie beläuft sich auf 300 Milliarden Dollar. Die Gläubiger
selbst bestehen darauf, dass die neue Regierung die Art und den
Zeitrahmen verhandeln muss. Das werden harte Verhandlungen sein,
weil das Wirtschaftssystem unerbittlich ist und keinerlei Erbarmen
und Mitleid kennt. Andererseits hat Brasilien eine beträchtliche
Wachstumsdynamik und eine gut entwickelte industrielle Basis. Es
kann viel produzieren, wenn es gut regiert wird. Das war bisher
nicht der Fall, man hat die Rezepte des Internationalen Währungsfonds,
der Weltbank und der WTO, die nirgends die Probleme der Entwicklungsländer
gelöst haben, diszipliniert befolgt. Jetzt besteht die Möglichkeit,
in einen klaren Dialog einzutreten und eigene Wege zu suchen, ohne
die Wirtschafts- und Handelsbeziehungen mit dem globalen System
abzubrechen. Aufgrund seiner Größe und Bevölkerung
ist Brasilien für Lateinamerika viel zu wichtig, als dass die
internationale Finanzwelt es in eine Krise von der Art Argentinien
schlittern lässt. Das würde nämlich eine Ausweitung
der Krise auf das gesamte globale System implizieren, und ich denke,
das kann nicht im Interesse der multilateralen Organisationen sein.
Sowohl Bush als auch der IWF haben ihre Unterstützung für
die brasilianische Wirtschaft zugesagt, wer immer auch der zukünftige
Präsident sein werde. Lula kann die Rolle des Noa übernehmen,
erbt er doch die Auswirkungen der Sintflut des Fernando Henrique
Cardoso. Ich bin davon überzeugt, dass viele beim Bau einer
Arche helfen werden, auf der alle Platz haben, um sich zu retten.
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