Argentinien - eine Gesellschaft im Wandel
Die nennenswerteste und vielleicht die weitreichenste Konsequenz
der sozialen Bewegung ist bereits in ihrem Namen enthalten. Die
Menschen von ihrem bisherigen sozialen Standort, in einen neuen,
unbekannten, ungewohnten zu versetzen. Das ist vielleicht das subversivste,
destabilisierende Potential der Bewegungen.
Raúl Zibechi
ALAI-AMLATINA, 18.12.2002, Buenos Aires.- Jenseits der Demonstrationen
und Gedenkfeiern, jenseits der sichtbaren, öffentlichen Aktivitäten,
die schon seit Tagen angefangen haben, den Festen und Ehrungen um
den 19. und 20. Dezember, ist die argentinische Gesellschaft in
ständigem Aufruhr. In diesem Sinne sollte man nicht mehr von
einer sozialen Bewegung sprechen, sondern von einer Gesellschaft
im Wandel. Ein Jahr nach den Ereignissen, die den Kontinent erschütterten
und die das neoliberale Projekt zum Stillstand brachten, überrascht
nun die Größe und Intensität der Veränderungen.
Die Daten zeigen, dass es allein im Jahr 2002 mehr als 2000 Straßenblockaden
gab, das sind fast sieben pro Tag. Das Institut Nueva Mayoria (Neue
Mehrheit) zählte zwischen Januar und November 2154 Blockaden,
eine Zahl, die die Summe der vergangenen 4 Jahre übersteigt.
Ein bemerkenswerter Punkt ist, dass die Blockaden sich zu einem
guten Teil in der Hauptstadt (13%) ereigneten. Dazu müsste
man eine beeindruckende Anzahl von Mobilisierungen jeglicher Art
anführen - von kleinen Versammlungen bis zu öffentlichen
Zusammenkünften und Protestmärschen, welche bei weitem
die Anzahl der Straßenblockaden übertreffen. Aber das
ist nur die sichtbare Seite der Straßenproteste, die am häufigsten
von den Medien aufgegriffen wird. Nicht nur wegen der hohen Medientauglichkeit,
sondern auch wegen des Risikos der Unterdrückung und des Todes,
die jeder Protest mit sich bringt, in einem Land, in dem die Polizei
jedes Jahr ca. 300 wehrlose Menschen tötet.
Das weniger Sichtbare
Weit entfernt vom weltlichen Lärm und den Kameras sind die
Menschen verstärkt aktiv, angespornt vom exponentiellen Anstieg
der Armut (zwischen 10-15 Prozent) und der Arbeitslosigkeit, die
die 20% bereits überschritten hat. Mehr als hundert Fabriken,
die die Besitzer geschlossen oder verlassen hatten, wurden von den
Arbeitern wieder in Betrieb genommen. Die organisierten Gruppen
der Arbeitslosen wachsen in Schwindelerregenden Tempo. Ein Teil
von ihnen wird von den Gruppen der „piqueteros“ kontrolliert.
Die „Corriente Clasista y Combativ“ koordiniert allein
in La Matanza mehr als hundert Stadtviertel. Die “Federación
de Tierra und Vivienda“, die mit der CTA verbunden ist, zählt
bereits mehr als zehntausend Mitglieder. Die Organisation „Coordinadora
Anibal Verón“ hat die Zahl ihrer Gruppen verdoppelt.
Die Zahl der Stadtteilversammlungen steigt weiter an, obwohl die
Anzahl der Teilnehmer abnimmt: von 272 im März sind sie nach
den letzten, zuverlässigen Daten im August auf 329 angestiegen.
Bedeutender ist aber die räumliche Verteilung. Der Prozentsatz
in der Hauptstadt nimmt ab, jener in den Vorstadtvierteln, wo jetzt
schon die Mehrheit der Vollversammlungen stattfindet, steigt eher
an. Diese Daten zeigen, dass diese Art der autonomen Organisationen
sich ausbreitet von der Mittel- auf die Arbeiter- und Arbeitslosenschicht,
die die Mehrheit in Gran Buenos Aires bildet. Es ist eine Ironie
des Schicksals, dass die Mittelklasse Aktionsformen übernimmt,
die in den Vorstadtvierteln entwickelt wurden.
Das Interessanteste ist jedoch, was die Zahlen nicht zeigen: die
täglichen Aktivitäten der Vollversammlungen und Gruppen
der Arbeitslosen (weitere Ironie!) tendieren dazu, die gleiche Art
von Aktivitäten zu realisieren, wenn auch räumlich unterschiedlich
und unter anderen sozialen Bedingungen. Die Versammlungen in der
Hauptstadt haben zwischen 30 und 40 Gebäude und Lokale eingenommen,
von in Konkurs gegangenen Banken, verlassenen Polikliniken, geschlossenen
Bars, bis zu Parkplätzen, die man großen Supermärkten
streitig machte. In diesen Räumen sind öffentliche Ausspeisungsstellen,
Gesundheitszentren für Kinder, Kulturzentren, Bäckereien,
Reinigungsmittelfabriken, organische Gärten und all das, was
zu einem würdigen Überleben beiträgt, installiert
worden.
Es sind Hunderttausende Personen, die nicht nur überleben
wollen (die Statistiken erwähnen 3 Millionen Personen, die
von ihren Familien-, Schul- und Gemeinschaftsgärten leben),
sondern die auch beginnen, untereinander Beziehungen aufzubauen.
Die Anonymität und die Indifferenz, die in der großen
Hauptstadt des Konsums herrscht, werden aufgehoben.
Den Ort verändern
Es scheint paradox, aber die Realität ist, dass die soziale
Bewegung in Argentinien im Verlauf des letzten Jahres Veränderung
und Standortwechsel unter den eigenen Mitgliedern produziert hat.
Wie? - ganz einfach, in dem sie ihren Standort wechselte, um einen
anderen einzunehmen, materiell oder symbolisch. In diesem Sinne
überzeugt nicht der Jargon der Soziologen, dass die Bewegungen
Veränderungen im politischen und sozialen Bereich und in den
Kräfteverhältnissen der Akteure verursachen. Tatsächlich
machen uns die Ereignisse auf andere Aspekte aufmerksam: Die Hausfrau,
die den Fernseher abschaltet und jeden Abend mit ihren Nachbarinnen
Brot backt. Der Jugendliche, der sich mit seinen Freunden im Kulturzentrum
trifft, um ein Solidaritätsfest zu planen. Der Lebensmittelhändler,
der nicht nur für die öffentliche Ausspeisung spendet,
sondern auch die Nachbarschaft in sein Geschäft einlädt.
Der Arzt der Poliklinik, der solidarisch sein Wissen anbietet. Und
so gibt es eine Folge von vielfältigen sozialen und kulturellen
Offerten.
Das System hat jeden, der ein Amt hat, an einen Ort gestellt. Ein
Stadtteil, eine Kategorie und eine symbolische Repräsentation
an seinen Platz in der Welt. Chaplin in der Fliessband-Fabrik in
dem Film „Moderne Zeiten“ konnte sich ohne die Erlaubnis
seines Chefs nicht bewegen und musste dem Rhythmus folgen, den die
Maschinen angaben und dem er rigoros untergeordnet war. Das System
erlaubt keinen Nomadismus, keine Änderung des Ortes nur aus
der Laune des Einzelnen heraus. Es muss eine Begründung geben,
vor allem eine Erlaubnis. Und sei es auch in einer Universitäts-Aula,
im Militärquartier, im Krankenhaus, oder in einem Stadtteil.
Die Textilarbeiterinnen von Brukman, obwohl es nicht mal hundert
waren, hatten keinen Kontakt zu den Arbeitern der anderen Sektoren,
weil die Vorarbeiter ihnen verboten hatten, ihren Bereich zu verlassen.
Erst vor kurzem begannen sie, miteinander zu sprechen, nachdem sie
die Fabrik besetzt hatten.
Der Schlüssel der Unterdrückung ist nicht so sehr die
Teilung der unteren Schicht, sondern ihre Unbeweglichkeit, eng verbunden
mit dem „bleibt ruhig“ der Lehrerin, was vor allem die
Fantasie beeinträchtigt: das Schrecklichste der Unterdrückung
ist, dass man sich nicht mehr vorstellen kann, an einem anderen
Ort zu leben.
In diesem Sinne sind die Bewegungen weit mehr als die Institutionen,
die sie beinhalten und die oft nicht mehr machen, als ihre Mitglieder
an einen festen und stabilen Ort zusammenzuführen. Was sich
in Wirklichkeit verändert hat, sind die alten Definitionen
und Begriffe der sozialen Bewegung, die sichtbar waren und Struktur
und Führer hatten, und durch die Entwicklung der Bewegungen
zerschlagen wurden. Um es kurz und bündig zu sagen: das Leben
hat wieder mal die Theorie überholt.
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