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POSTWAHLZEIT IN COSTA RICA
Interview mit Roland Spendlingwimmer

>>Andreas Cavar (Der Standard):
Soweit man den Präsidentschaftswahlkampf in Costa Rica von Europa aus verfolgen konnte, war vor allem die zunehmende Gewalt ein zentrales Wahlkampfthema. Hat sich die Gewalt in Costa Rica nach Ihrer Einschätzung in den letzten Jahren tatsächlich erhöht? Sind die Gründe für die erhöhte Gewaltrate der Drogenhandel oder kann man andere Faktoren dafür verantwortlich machen?

>>Roland Spendlingwimmer:
Ja, der Wahlkampf konzentrierte sich sehr auf die Frage der Sicherheit in diesem Land. Ohne Zweifel haben in den letzten 20 Jahren Kriminalität und Gewalt zugenommen. Sicherlich ist bei diesem Thema die subjektive Wahrnehmung durch die Boulevardpresse und das Fernsehen leicht manipulierbar. Ich habe die statistischen Daten nicht zur Hand, aber ich denke, dass eine kontinuierliche Zunahme von Delikten und der Gewaltbereitschaft stattgefunden hat. Die Gründe sind sicherlich nicht nur im verstärkten Drogenhandel (Costa Rica wird verstärkt als Plattform für die Weiterverteilung von Drogen in den Norden benutzt, gleichzeitig ist aber auch der Drogenkonsum im Land selbst stark gestiegen) zu suchen. Ohne Zweifel ist es im sozialen Bereich seit gut 30 Jahren permanent abwärts gegangen. Budgetkürzungen im Gesundheitssektor, in der Erziehung, in den begleitenden Maßnahmen für die Bauernschaft haben das Modell einer solidarischen Gesellschaft, die auf einer sehr starken Mittelschicht aufbaute, nach und nach zu Fall gebracht. Das System wurde mehr und mehr zu einem Zweiklassensystem, wo diejenigen, die über Mittel verfügten, die private Gesundheitsversorgung oder private Erziehung in Anspruch nehmen konnten. Der Großteil der Bevölkerung, die Mittelschicht, die in den unteren Bereich absank, aber nicht. Stark sichtbar wird diese Polarisierung im ungeheuren Anwachsen der Tugurios (Elendsquartiere). Und das nicht nur in der Hauptstadt San José, sondern auch in den Provinzstädten. Die Armut und die Anzahl der von der Gesellschaft ausgeschlossenen nimmt zweifellos ständig zu.

Dazu kommt eine meiner Meinung nach verfehlte Agrarpolitik. Costa Rica ist ein Agrarland und Tourismusparadies. Davon lebt es auch zum Großteil. In den 80er-Jahren setzte eine Politik ein, die weniger und weniger die lokalen Bauern (Klein- und Mittelbetriebe) unterstützte. Man setzte auf den Export der großen multinationalen Agrarkonzerne. Tausende Hektare fruchtbaren Landes wurden z.B. von Del Monte für die Ananas-Monokultur aufgekauft. Die landlos gewordenen Bauern zogen in die Städte und verarmten dort aufgrund des Mangels an Arbeitsplätzen. Nach und nach wies Costa Rica, was die Eigenversorgung mit Grundnahrungsmitteln (Mais, Reis, Bohnen) betraf, enorme Defizite auf. Man musste importieren! Ich denke, dass diese Strukturveränderungen, der soziale Abbau und die ansteigende Armut in erster Linie für die Verschlechterung der Sicherheitslage und das Ansteigen der Kriminalität verantwortlich sind. Das muss als globaler Prozess betrachtet werden.

>>Andreas Cavar:
Inwiefern ist Costa Rica Ihrer Meinung nach von der Wirtschaftskrise betroffen? Hat die Armut in Costa Rica in den letzten Jahren zugenommen?

>>Roland Spendlingwimmer:
Die Wirtschaftskrise hat Costa Rica sehr wohl betroffen. In erster Linie den Bausektor und den Tourismus. Als Land mit allen Charakteristiken eines Drittweltlandes wird natürlich auch hier viel vom sogenannten informellen Sektor aufgefangen und von der traditionellen Convivencia (Nachbarschaftshilfe) und dem Einspringen der Großfamilie in Notsituationen. In diesem Sinne haben ja die lateinamerikanischen Länder die Krise bisher wesentlich besser aufgefangen als manche Industrieländer. In der Statistik hat die Wirtschaftskrise sicher zu einem weiteren Anstieg der Armut beigetragen.

>>Andreas Cavar:
Die neue Präsidentin Laura Chinchilla hat nach ihrer Wahl angekündigt, die Kriminalität mit harter Hand zu bekämpfen. Welche Maßnahmen kann man sich diesbezüglich erwarten bzw. wurden hier schon konkrete Maßnahmen angekündigt? Was sind die größten Herausforderungen, die Chinchilla Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren zu bewältigen hat?

>>Roland Spendlingwimmer:
Laura Chinchilla und noch stärker die rechte Partei "Movimiento Libertario" forderten im Wahlkampf den starken Arm. Sie hatten mit dieser populistischen Forderung auch Erfolg. Vor allem die Partei von Peter Guevara (ML), die ihre Wählerschaft mehr als verdoppelte! Von Laura Chinchilla hört man jetzt so ab und zu Vorschläge wie "Die Polizei muss auf der Straße präsent sein, nicht in den Polizeistationen". Und auch Vorschläge für eine Änderung im Strafvollzug. Härtere Strafen für Gewaltdelikte und Wiederholungstäter, längere Präventivhaft usw. Persönlich bin ich nicht überzeugt von der Effizienz dieser Maßnahmen; eine Umkehr auf dem Gebiet der Sicherheit ist mehr eine Sache des Gesellschaftsmodells, eines langfristigen Konzeptes der Armutsbekämpfung, der Regulierung der enormen Einkommensdifferenzen, ein Zurück zur Festigung der Mittelschicht (Die war für die Aufrechterhaltung des sozialen Friedens in diesem Land ausschlaggebend!) und der Bauern. Populistische Forderungen einer starken Hand sind in Wahlzeiten sehr nützlich. Friedensbildende und sozial stabilisierende Maßnahmen sind eine langfristige Sache, nicht so spektakulär und Stimmen bringend. Die benötigen Ausdauer und Courage!

Die größte Herausforderung, vor der die neue Präsidentin in Costa Rica steht, ist: Schafft sie es, dieses gespaltene Land wieder auf den Weg des Konsens zu bringen? Die Kluft wird zusehends größer. Oscar Arias hat die Wahlen 2006 mit einer hauchdünnen Mehrheit gewonnen. Seine Regierungsperiode war von Autoritarismus gekennzeichnet. Viele Entscheidungen wurden durch Regierungsdekrete gefällt: Konzession des Goldabbaus im Tagbau in La Cruzita, Errichtung des Megastaudammes El Diquis im Süden, Umwandlung des juristischen Satuts der Nationalparks in halb-private Formen,  Privatisierung des Hafens in Limón usw. Auch die Beeinflussung autonomer Einrichtungen, wie Verfassungsgerichtshof, Ombudsmann usw. schaffte böses Blut in den Jahren der Arias-Regierung. Laura Chinchillas Erfolg wird davon abhängen, Identität für ein solidarisches Entwicklungsmodell mit sozialer Gerechtigkeit und Eigenständigkeit zu schaffen, das von der Mehrheitsbevölkerung getragen wird. Dazu wird ein anderer Regierungsstil notwendig sein und auch eine Umkehr in vielen Fragen der wirtschaftlichen und politischen Orientierung.

>>Andreas Cavar:
Während meiner Reise durch Costa Rica wurde ich mit dem Phänomen konfrontiert, dass es in der Bevölkerung zum Teil große Vorbehalte gegenüber Einwanderern aus Nicaragua gibt. Ist Ihnen dieses Phänomen bekannt und können Sie vielleicht die allgemeine Situation der Einwanderer aus Nicaragua beschreiben?

>>Roland Spendlingwimmer:
Costa Rica und Nicaragua haben viele gemeinsame Wurzeln. Das reicht weit zurück, als militärische Interventionen des Freischärlers William Walker im 19. Jhdt. gemeinsam zurückgeschlagen wurden. 1978 habe ich beeindruckende Solidaritätskundgebungen in San José mit dem leidenden Volk von Nicaragua (Diktatur der Somozas) miterlebt. Viele Costaricaner haben in Nicaragua Verwandte und umgekehrt kommen viele Nicaraguaner nach Costa Rica, um ihre Familienangehörigen zu besuchen. Ohne Zweifel hat Nicaragua durch die ständigen Konflikte (Diktaturen, Kolonial- und von den USA geschürte Bürgerkriege) nie eine längere friedliche Aufbauphase miterleben können. Wirtschaftlich hat es keine Chance gehabt, sich zu erholen. Dementsprechend ist es ein um vieles ärmeres Land als Costa Rica. Während unzählige Costaricaner in die USA gehen um ihr Einkommen zu verbessern, migrieren die Nicaraguaner nach Costa Rica um hier Arbeit zu finden. Sie arbeiten hauptsächlich in den schwersten landwirtschaftlichen Sektoren: Zuckerrohr- und Kaffeeernte, Viehfarmen (Hier mangelt es effektiv an Arbeitskräften, die Costaricaner wollen diese Arbeiten nicht mehr machen). Die Frauen arbeiten als Haushaltshilfen. Die Migranten sind zum Großteil illegal und werden unterbezahlt. Ihre Wohnsituation, zumeist in den großen Tugurios, ist unter jeder Kritik. Ihr schlechtes Ansehen ist meiner Meinung nach eine von den Massenmedien und Populisten geschickt geschürte Manipulation. Man macht sie verantwortlich für ein Unbehagen, das in der costaricanischen Gesellschaft aus ganz anderen Gründen vorhanden ist. Das sind Ablenkungsmanöver! Psychologisch ist es immer dasselbe: Es ist ein Leichtes, Sündenböcke zu finden, sie zu kultivieren und darauf sein politisches Süppchen zu kochen. Rassismus und Nationalismus aufzuheizen ist immer wesentlich leichter als langfristige Maßnahmen, Programme zur Völkerverständigung und Aufklärungsarbeit zu leisten!



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